AKTUELL     WERKE     BIO     KONTAKT

< zurück zu ZEICHNUNG

Federzeichnungen
49 x 65 cm, 44 x 60 cm, 41 x 29,7 cm, Tusche auf Papier, Wien 1976–79.
Federzeichnungen großteils auf handgeschöpftem Papier. Bildgewordene Wortspiele und Bedeutungsverfremdungen.

Otto Kapfinger: Bilder ohne Worte, in: Renate Kordon Zeichnungen 1976–79, Wien 1980 / gekürzte Fassung ...

Bilder sind sehr schnell geworden. Die Psychomechaniker der Vermarktung messen ihre Vermittlungskapazität in Zehntelsekunden. Wir sehen heute Bilder eine Sekunde lang an und fragen gleichzeitig: Was soll es bedeuten? In diesem Augenblick bietet das Bild entweder eine plakative Botschaft, ein prägnantes Signet oder ein leichtes Rätsel, das wir sogleich verstehen und das uns unmittelbar erleichtert aus der Spannung des Fragens entlässt, oder wir verstehen nichts und bücken uns sogleich, um unter dem linken oder rechten Rand des Passepartouts den Zettel mit der Auflösung zu lesen. Dies führt dann gewöhnlich zu einem „Ach ja!“ oder „Aber nein!“ – und wir wenden uns dem Nächsten zu.
Es kann auch der Fall eintreten, dass ein Bild zwar schnell auf unsere Frage antwortet, indem es etwa die dynamischen Wirkungsweisen des Witzes und des Komischen zur Geltung bringt – Verdichtung, Verschiebung, Anthropomorphismus, Burleske usw., dass aber deren Vortragsweise und formale Ausführung die spontane Spannungsabfuhr etwas bremst, indem zum Beispiel die dynamische inhaltliche Spannung mit einer formal „langsamen“, wirklichkeitsnahen Darstellung gekoppelt ist. Der zunächst aufblitzende Effekt des Überraschenden, des Komischen tritt dann in den Hintergrund, wir sind so aber eingeladen und bereit gemacht, länger zu verweilen, weiterzufragen, in weitere Schichten des angebotenen Sujets einzudringen.
Aus diesem Grund also Randbemerkungen zu Bildern ohne Worte.

Verstiegene Gedankengänge. Die Doppelwendeltreppe entschleiert das Geheimnis der grauen Zellen.

Unterricht, Buchstabeneintrichterung aus der Spraydose; Saubermachen, Frischmachen, Desodorieren, Fixieren, vernichtet Gedanken und Gedankenbrut. Kopfaushöhlender Worteregen, hirnschalenfüllende Abc-Duftwolke, Einnebelung aus der Klarsichtflasche, Desinfizierung der Gedankenluft; Wissen – ein vakuumgepacktes Problemauflöseinstrument.

Bibliothek von Babel: In der Ecke des Lesezimmers steht ein Bücherregal in der Form eines riesengroßen aufgeklappten Buches. Die Zeilen dieses großen Buches bilden die Regale. Wie die Buchstaben in den Zeilen stehen die Bücher in den Regalen. Der Zeileninhalt dieser normal großen Bücher besteht seinerseits wieder aus sehr kleinen Büchern, deren Buchstaben nun ihrerseits aus ganz winzigen Büchern gebildet werden usw. Auf diese Weise besteht die Bibliothek aus unendlich vielen Büchern, ohne dass in diesen etwas zu lesen wäre oder geschrieben stünde. Das Buch der Bücher als Tautologie, der verschollene Katalog der Bibliothek von Babel ilustriert den universalistischen Zusammenhang alles Geschriebenen.

Fenstergucker: Den Vorhang aufziehen und aus dem Fenster in die Welt sehen – oder die Zeichenfeder über das weiße Papier führend das Fenster der Bilderwelt öffnen. Ein Fenster zu zeichnen – den Blick durch ein Fenster –, beschreibt den Vorgang des Bilderherstellens überhaupt: die räumliche Ausstülpung der Fläche und Öffnung. Im geöffneten Fenster lehnt ein Fenstergucker und blickt auf die Bildbetrachter. Aber seine Augen sind verdeckt, verhängt durch kleine Gardinen, Miniaturausgaben der Fenstervorhänge im Zimmer. Ist es Tarnung der Neugierde oder nur eine Darstellung dessen, dass der Fenstergucker auch bei geöffneten Läden und Zimmervorhängen nichts anderes sieht als wieder diese Vorhänge? Was Einblick verhindern soll, trübt auch den Ausblick? Im Fenstergucker spiegelt sich die Bildbetrachtung. Die Ebene der Spiegelung ist die durch Zeichnung entmaterialisierte Bildoberfläche, in der Realität und Illusion verschmelzen. Die Wirklichkeit unserer wahrgenommenen Außenwelt ist im Innern unseres Sehapparats begründet. Was die Augen sehen, entsteht hinter dem Vorhang der Pupille. Dem dargestellten Zimmer hinter dem Fenster entspricht gleichsam der Innenraum der realen Bedingungen der menschlichen Wahrnehmung gegenüber dem gelernten Außenraum der illusionären Erscheinungen.

Wenn man hingegen die wahrgenommene Umwelt als die ,reale‘ annimmt, wird sie umgekehrt zum Innenraum der Wirklichkeit, den das Fenster eines Bildes zum Illusionären, zum Vorgestellten öffnet. Die Zeichnung ist nun die Ausstülpung vom Realen zum Vorgestellten, zum Raum des Theaters, der gespielten, stellvertretenden Wirklichkeit: Wenn der Vorhang aufgeht, beginnt das Spiel – die Kunst. Es ist immer der Vorhang vor dem Guckkasten, der das Spiel beginnen lässt, immer die Museumstür, welche die Kunst definiert und alle Erwartungen richtet, unsere Einstellung schärft, die Aura erzeugt und den Kontext herstellt. Und dieser Vorhang, dieser Rahmen, diese Aura sind so wichtig, so selbständig und unentbehrlich geworden, dass wir nur mehr durch sie hindurch sehen, schließlich nur mehr sie selbst sehen können: ohne Vorhang keine Aura, keine Kunst. Der Kontext erklärt und bestimmt, was Kunst ist...

Tische: Welcher Tisch ist der richtige? Der, von dem die Vervielfachung ausging, diese endlose Verkleinerung oder Vergrößerung oder beides zugleich? Man sucht im Bild nach einem realen, vernünftigen, wirklichen Tisch, obwohl doch alle Tische gleichermaßen nicht-real, bloß bildlich dargestellt sind. Nachdem die Zeichnung keine maßstäblichen Hinweise und Anhaltspunkte bietet, tappt die gewöhnlich nach Realität suchende Betrachtung unversehens in die Falle, wobei im selben Moment der eigengesetzliche, Wirklichkeit stellvertretende Bildcharakter sich kurz erhellt und ein vorübergehendes Lächeln auslöst.

Hühnergericht: Ein gabelförmiger, ansonsten hühnerfußförmiger Hühnerfuß ergreift die hühnerfußförmige, ansonsten gabelförmige Gabel. Schlechte Tischmanieren für ein Huhn!

Geduld: unterirdisch wachsend.

Stille / Fensterflügel: Kreuz und quer durch die Luft eines dunklen geschlossenen Raumes schwebt ein Dutzend auf- und zuschnappender Fenster. Der Raum könnte ein Schacht sein, in den die Flügel hinunterstürzen, um in der nächsten Sekunde klirrend zu zerschellen. Der angedeutete Fußboden mit der umlaufenden Leiste macht aber dieses zentralperspektivische, kubische Prisma zu einem Zimmer, dessen vorstellbare Fenster- und Türwand in oder hinter der Ebene der Zeichenfläche liegt. Die Fenster scheinen von vorne, vom Fenster des Raumes nach hinten in den Raum hineinzufliegen: ein Glassplitterregen im Moment des Durchschlagens der trennenden Glasscheibe zwischen Außen und Innen, zwischen dem realen Raum und dem vorgestellten Raum? Jeder Splitter wieder ein ganzes Fenster? Tatsächlich ist die Zeichenfläche jene gläserne irreale Bildebene der Perspektive, die nur einmal durchstoßen werden muss, von vorne nach hinten zum Fluchtpunkt, um die Fläche als Raum, das Unwirkliche wirklich, das Unmögliche als möglich vorzustellen.

Fensterkleid: Eine Figur mit verdeckten Augen, mit verdecktem Gesicht gegenüber einem offenen, lichtflutenden Fenster. Eine die Augen verschließende, tastende Bewegung zum Licht, zum Ausblick, zu einer Wirklichkeit jenseits des dunklen Zimmers. Die kleinen Fenster am Gewand sind wie Fetische für das gleißende große, oder auch wie Erinnerungen, Trophäen von bereits durchgeschauten Fenstern. Der Ausblick ist offenbar ein Wagnis, eine Prüfung, mit Angst und Sehnsucht, Neugierde und Scheu verbunden. Das Schauen des Kopfes kann das blendende Fensterlicht nicht ertragen, während das Kleid, die Wirklichkeit des Körpers, mit vielen geöffneten Fenstern dieses Licht bereits antizipiert.

Eva und das Paradies / Apfelputzenfrauenkopf: Ähnlich Magrittes fallenden Äpfeln verdeckt ein Apfelputzen den Kopf einer Frau, ersetzt diesen. Frauengesichter müssen kosmetisiert, ritualisiert sein, aufbereitet zum ständigen Anbeißen mit Blicken, immer repräsentationsfähig zum Verlocken, wie ein polierter Apfel. Unter der Zunge sammelt sich Speichel beim bloßen Anblick. Frauenköpfe sind Objekte des Genusses. Putz und Kern und Stengel werden weggeworfen. Frauenköpfe sind nicht zum Nachdenken da, sondern zum Abfressen. Es kann aber auch vorkommen, dass im Kopf ein Gefühl der verlorenen Substanz auftritt, und dass ein Ausgehöhltsein sich durch ein verwandtes Gegenteil mitteilt.

Mimikri: Birnbaum schlüpft in einen Mantel. Bäume können zwar mit Ästen nach Licht und Luft greifen, die Bewegung des Rockanziehens wird ihnen aber schwerfallen. Was tut ein Birnbaum in einem Mantel aus Birkenrinde? Tarnung, Täuschung, Trophäe? Bekleidung von etwas, das ohnehin schon bekleidet ist? So wird die ursprüngliche Rinde zur nackten Haut. Hundewams und Katzenweste.








Contact
RENATE KORDON art@renatekordon.com
Copyright © 2013–2023 · All Rights Reserved · Renate Kordon · www.renatekordon.com